Varianz und Grammatikalisierung von Verbalszenenkonstruktionen

Projektleitung: Prof. Dr. Gabriele Diewald

Projektmitarbeiter:

Dr. Dániel Czicza

Volodymyr Dekalo

Das Projekt untersucht die Konstruktionsvarianten der Verben bekommen, kriegen, verdienen und lassen im heutigen Deutsch im Hinblick auf die je spezifische Szenenstruktur und den jeweils vorliegenden Grammatikalisierungsgrad. Für dieses komplexe Untersuchungsobjekt wird der Terminus „Verbalszenenkonstruktion“ geprägt, um hervorzuheben, dass nicht nur die Argumentstruktur oder Teile der Proposition, sondern das gesamte semantisch-kognitive Repräsentationsmuster eines Satzes als konstruktionelle Entität erfasst und untersucht wird. Zwar dienen die Verben als namengebende Elemente der Konstruktionen, ihre Bedeutung bzw. Funktion wird jedoch integrativ im Rahmen der jeweiligen Konstruktion ermittelt. Sie setzt sich im Wesentlichen aus Merkmalen der Relationalität der Verbalszene, der Argumentstruktur und der Aspektualität zusammen.

Die genannten Verben weisen hochgradige Polyfunktionalität zwischen lexikalen, idiomatischen und grammatikalisierten Gebrauchsweisen auf. Damit ist eine große konstruktionelle Vielfalt verbunden, wie folgende Beispiele mit bekommen andeuten. (1) zeigt die stark grammatikalisierte Verwendungen im bekommen-Passiv, (2) und (3) illustrieren semi-auxiliare Verwendungen in modalen und aspektuellen Konstruktionen, (4) und (5) zeigen Vollverben mit divergenten Argumentstruktur- bzw. Valenzrahmen und Verbbedeutungen.

  1. Sie bekommt die Haare geschnitten.
  2. In diesem Job bekommt sie furchtbare Dinge zu sehen.
  3. Sie bekommt das bis heute Abend geregelt.
  4. Soviel Milch bekommt einer Katze nicht.
  5. Sie bekommt das Mineralwasser.

Ziel des Projekts ist es zum einen, Einsichten in den Zusammenhang zwischen der Varianz und Grammatikalisierung von Verbalszenenkonstruktionen und den Auxiliarisierungsgraden der darin zentral beteiligten Verben zu ermitteln, und zum andern Grammatikalisierungs–pfade neuen Typs mit Verbalszenenkonstruktionen (d.h. holistischen Einheiten) als Skaleninhalten zu entwickeln. Es wird angenommen, dass die bisher bevorzugte Linearität bei der Modellierung derartiger Skalen für die Verbalszenenkonstruktionen nicht ausreicht, sondern dass stattdessen netzartige bzw. mehrdimensionale Gebilde anzusetzen sind, die Polygrammatikalisierung ebenso wie Lexikalisierung und Idiomatisierung angemessen abbilden. Angestrebt ist somit eine im vollen Sinne konstruktionelle Modellierung der Varianz und Grammatikalisierung von Verbalszenen inklusive ihrer semantischen Frames. Die empirische Grundlage ist eine korpusgestützte Untersuchung aller mit den genannten Verben vorfindlichen Konstruktionen. Den theoretischen Hintergrund bildet die Verbindung von Grammatikalisierungsforschung, Konstruktionsgrammatik und kognitiver Linguistik (insbesondere Frame Semantik, Theorie der Deixis).

Der wissenschaftliche Ertrag der Untersuchung ist ein dreifacher:

  1. die Ermittlung der Varianz von Verbalszenenkonstruktionen und entsprechender Grammatikalisierungsskalen schließt eine Lücke in der Erforschung von Grammatikalisierungsprozessen;
  2. die konstruktionelle Fundierung wird erstmals an zentraler Stelle in die Modellierung von Grammatikalisierungsvorgängen aufgenommen;
  3. das Postulat der Konstruktionsgrammatik bezüglich der Primärstellung des Konzepts der Konstruktion wird im genannten Bereich modellhaft eingelöst.