Tagungsbericht „Denken – Sprechen – Gendern“, Hannover, 10.-11. Oktober 2019

Am 10. und 11. Oktober 2019 fand im Leibnizhaus in Hannover die Tagung „Denken – Sprechen – Gendern“ statt. Eingeladen hatten Wissenschaftler*innen der Leibniz Universität Hannover und der Medizinischen Hochschule Hannover, die in dem gemeinsamen interdisziplinären Forschungsprojekt „Geschlechtergerechte Sprache in Theorie und Praxis“ seit 2017 verschiedene Aspekte dieses Themas aus linguistischer, phoniatrisch-psycholinguistischer und juristischer Perspektive bearbeiten. Gefördert wird dieses bis 2020 laufende Projekt durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur und die VolkswagenStiftung.

Der Einladung zur Tagung waren über siebzig Teilnehmende aus ganz Deutschland gefolgt. Vertreten waren unter anderem Lehrende und Studierende verschiedener Forschungsbereiche, Gleichstellungsbeauftragte, Vertreter*innen von Ministerien, Beschäftigte unterschiedlichster Bereiche städtischer Verwaltung, Unternehmer*innen der freien Wirtschaft sowie Privatpersonen. Eröffnet wurde die Tagung mit persönlichen Grußworten von Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Epping, Präsident der Leibniz Universität Hannover, Prof. Dr. med. Michael P. Manns, Präsident der Medizinischen Hochschule Hannover, Dr. Barbara Hartung vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur sowie Dr. Vera Szöllösi-Brenig von der VolkswagenStiftung, die in ihren Ansprachen die gesellschaftliche Bedeutung des Tagungsthemas würdigten und an die jeweiligen Fachbereiche appellierten, mit ihrer weiteren Arbeit Beiträge zum besseren Verständnis der wissenschaftlichen Forschungsinhalte und deren weitere Vermittlung – auch über Fachkreise hinaus – zu leisten. Den Grußworten folgte eine Einführung in das Thema der Tagung, indem die jeweiligen Leitungen (Prof. Dr. Gabriele Diewald, Leibniz Universität Hannover; Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, LL.M., Leibniz Universität Hannover; Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. Martin Ptok, Medizinische Hochschule Hannover) die drei Teilprojekte des Projektes „Geschlechtergerechte Sprache in Theorie und Praxis“ und deren Forschungsinteressen und -schwerpunkte kurz darstellten.

An den beiden Veranstaltungstagen referierte nicht nur die Leiterin des Forschungsprojektes, Prof. Dr. Gabriele Diewald über ihre Arbeit (Titel des Vortrages: „Das Gewicht der Sprache für gesellschaftliche Veränderungen“), sondern es referierten auch einige der Projektmitglieder. Tabea Tiemeyer hielt aus psycholinguistischer Sicht den Vortrag „Lasmuel ist emotional, Mulenie handwerklich begabt – Sprachliche Aktivierung von Geschlechtsstereotypen und ihre Beständigkeit“, eine sozialwissenschaftliche Perspektive lieferte Christine Ivanov mit ihrem Beitrag „Zwischen Vorbildfunktion und ‚ideologischer Verwirrung‘ – geschlechtergerechte Sprache an Hochschulen“ und die Juristin Annelie Bauer teilte ihre Überlegungen zur Frage „Geschlechtergerechte Sprache und Grundgesetz – (Wie) Hängt das zusammen?“ mit.

Weitere Höhepunkte der Tagung waren die Vorträge der geladenen Gäste: Prof. Dr. Sabine Sczesny von der Universität Bern sprach als Sozialpsychologin über „Anti-Diskriminierung durch geschlechtergerechte Sprache?“ und aus korpuslinguistischer Perspektive berichtete Dr. Sina Lautenschläger von der Universität Kassel über „Frivole Frauen und exhibitionistische Männer: Geschlechtsspezifische Stereotype im Sprachgebrauch“. Dr. Claudia Posch von der Universität Innsbruck analysierte aus argumentationsanalytischer Sicht die Kritik an geschlechtergerechter Sprache in ihrem Beitrag „Den Leser durch gekünsteltes Wortgut irritieren … Rhetorische Figuren und Argumentation in der österreichischen Debatte um die Normierung antidiskriminierender Sprache“. Zu Fragestellungen aus dem Bereich Recht äußerte sich Dr. Louis Kasten, Mitwirkender an der Kampagne „Dritte Option“, in seinem Beitrag „m/w/d – geschlechtergerechte Sprache jenseits von männlich und weiblich“ und Dr. Torsten von Roetteken, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht a. D., sprach über die „Vorgaben zur Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache im BGleiG und AGG“. Alle Beiträge sind untenstehend kurz zusammengefasst.

Der mit großem Interesse erwartete Vortrag von Dr. Pascal Gygax von der Université de Fribourg „Gender-fair language: useless or necessary? A psycholinguistic perspective“ musste leider kurzfristig entfallen. Das Forschungsteam von „Geschlechtergerechte Sprache in Theorie und Praxis“ plant derzeit, Pascal Gygax für 2020 nach Hannover einzuladen, um den versäumten Austausch nachzuholen. Hierüber wird auf der Webseite von Gabriele Diewald informiert werden.

Anti-Diskriminierung durch geschlechtergerechte Sprache?

Prof. Dr. Sabine Sczesny (Universität Bern)

Zum Auftakt der Vorträge gewährte Prof. Dr. Sabine Sczesny Einblicke in geschlechtergerechte Sprache aus sozialpsychologischer Perspektive. Ihren kurzweiligen Vortrag mit dem Titel „Anti-Diskriminierung durch geschlechtergerechte Sprache?“ führte sie durch einen Cartoon von Uli Stein ein, gefolgt von einer kurzen Rekapitulation der gesellschaftlichen Debatten zum Thema, angefangen mit frühen feministischen Postulaten („Das Deutsche als Männersprache“, Luise Pusch 1984) bis hin zu aktuellen antifeministischen Äußerungen in den Medien. Letztere nutzte sie als Überleitung zu einer Definition des generischen Maskulinums und einer Darstellung unterschiedlicher Formen von Personenbezeichnungen im Deutschen.

Im weiteren Verlauf des Vortrags wurde zwei Leitfragen nachgegangen: Erstens der Frage nach der Entstehung von mentalen Bildern von Frauen und Männern durch die Verwendung unterschiedlicher Sprachformen und zweitens der Frage nach den Konsequenzen dieser mentalen Repräsentationen. Hier wurde explizit auf die Herausforderung im Deutschen hingewiesen, da im Sprachvergleich, etwa zum Englischen, das Gendern im Deutschen den intensiveren Einbezug der Grammatik erfordere.

Hinsichtlich der ersten Frage referierte Sczesny einige experimentelle Studien. Als Fazit dieser Studien stellte sie heraus, dass neutrale Formen keine gleichwertige Alternative zum generischen Maskulinum darstellten, wenn es um die mentale Einbeziehung von Frauen gehe, wohingegen die Beidnennung eine stärkere, das Binnen-I jedoch die stärkste gedankliche Einbeziehung von Frauen bewirke. Auch die Ergebnisse der Studie „The social perception of heroes and murderers: Effects of gender-inclusive language in media reports“ (Karolina Hansen, Cindy Littwitz, Sabine Sczesny 2016) untermauerten, dass der Gebrauch geschlechtergerechter Sprachformen zu ausgeglicheneren mentalen Repräsentationen von Frauen und Männern führe.

Um die zweite Leitfrage nach Konsequenzen dieser mentalen Repräsentationen zu klären wurde zunächst der Zusammenhang zwischen Sprache und Geschlecht dargelegt sowie soziale Diskriminierung – wie beispielsweise geschlechtsspezifische Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt bei Einstellung, Beförderung und Entlohnung – als mögliche Konsequenz genannt. Es könne bei einer Inkongruenz sozialer Rollen ein „Lack-of-Fit“ (Misserfolgserwartungen) entstehen, da die Merkmale der Geschlechtsrolle (die erwarteten Eigenschaften) mit den Merkmalen der Berufsrolle (den Anforderungen) kognitiv abgeglichen werden. Die Rolle der Sprache für den „Lack-of-Fit“ wurde durch diverse Studien herausgestellt, in welchen es vielfach um die Selbstbeurteilung, teilweise aber auch um eine Fremdbeurteilung ging. Als Fazit hielt Sczesny fest, dass es empirische Belege für negative Konsequenzen des generischen Maskulinums gebe, dass es sich beispielsweise negativ auf die Interessen, Gefühle und Intentionen von Frauen auswirken könne sowie auf ihre Chancen, für eine statushohe Position ausgewählt zu werden, und dass der Gebrauch geschlechtergerechter Sprache zur Reduktion der Benachteiligung von Frauen beitragen könne. Als Problem zeigte die Sprecherin auf, dass der Kontext der Einbettung der geschlechtergerechten Sprache eine wichtige Rolle spiele (bspw. sei ein maskulines Setting mit dem Zusatz „m/w/d“ innerhalb eines Textes im generischen Maskulinum nicht geeignet, die mentale Repräsentation von Frauen zu evozieren).

Zuletzt wurde der Begriff „Nudging“ (Verhaltenssteuerung ohne dabei auf Verbote und Gebote zurückzugreifen oder Anreize verändern zu müssen) eingeführt und anhand der Studie „Just Reading? How Gender-Fair Language Triggers Readers' Use of Gender-Fair Forms” erklärt (Sara Köser, Elisabeth A. Kuhn, Sabine Sczesny 2015). Hier stellte die Referentin heraus, dass sich bei Anreizen zur Verwendung der Beidnennung die an der Studie teilnehmenden Männer nur dann reaktiv beeinflussen ließen, wenn in der Handlungsanweisung der Terminus „geschlechtergerecht“ vorkam.

Abschließend wurde das im Vortrag deutlich gewordene Dilemma der geschlechtergerechten Sprache artikuliert, welche Frauen nach den Studien nicht zwangsläufig sichtbarer mache. So wirke sich die Verwendung von Neutralisierungen nicht (genügend) positiv auf die mentale Repräsentation von Frauen aus. Die Beidnennung hingegen mache Frauen sichtbarer, das ‚dritte Geschlecht‘ bleibe bei beiden Lösungen aber ungesehen. Aus diesem Grund plädierte Sczesny für variablen Sprachgebrauch und kreative Lösungen.

Lasmuel ist emotional, Mulenie handwerklich begabt – Sprachliche Aktivierung von Geschlechtsstereotypen und ihre Beständigkeit

Tabea Tiemeyer, M.Sc. (Medizinische Hochschule Hannover)

Als Vertreterin des Teilprojektes Psycholinguistik innerhalb des Forschungsprojektes „Geschlechtergerechte Sprache in Theorie und Praxis“ berichtete Tabea Tiemeyer über ihre Arbeit zu Geschlechtsstereotypen: In Experimenten zur mentalen Kodierung bei de novo Repräsentationen von Geschlechtsstereotypen werden neue, bisher unbekannte Namen zunächst durch Adjektive mit einem Geschlechtskonzept assoziiert. Anschließend wird diese Assoziation durch Pronomen definitorisch bestätigt oder gebrochen.

Tiemeyer definierte zunächst Stereotype als kognitive Schemata oder Strukturen, die bestimmtes Vorwissen, bzw. einen als typisch behaupteten, oft vereinfachten Sachverhalt, aber auch Erwartungen und Vermutungen hinsichtlich einer distinkten sozialen Gruppe repräsentieren. Als eine Unterkategorie von Stereotypen verstehen sich Geschlechtsstereotype, nämlich als spezifische Verbindungen zwischen Attributen und einem Geschlechtskonzept. Es handelt sich bei Geschlechtsstereotypen somit um Annahmen, die Menschen darüber haben, welche Merkmale männliche und weibliche Personen (angeblich) haben oder haben sollten. Verschiedenste von Tiemeyer angeführte Studien zeigen bereits den Zusammenhang zwischen Stereotypen und durch diese motiviertem Handeln auf (Joshua Corell 2002; Dries Vervecken & Bettina Hannover 2015; Klaus Rothermund 1998 uvm.).  

Tiemeyers Arbeit knüpft an die von ihr beschriebenen Studien an. Insbesondere werden die folgenden beiden Fragestellungen untersucht. Erstens: Welche Hinweise in der Sprache führen zu einem automatischen Abruf von Geschlechtsstereotypen? Zweitens: Wie schnell wird ein Geschlechtsstereotyp aufgebaut? Hierfür wurden bereits zwei Studien abgeschlossen, eine dritte wird derzeit durchgeführt.

Die erste Studie des Teilprojektes Psycholinguistik war eine Online-Befragung zu Personennamen. Namen sind eine prominente Darstellungsmöglichkeit von Geschlecht. In der betreffenden Studie wurden 140 Pseudonamen entwickelt und von 655 Personen je 35 Namen zu den Kategorien „männlich“, „weiblich“ und „uneindeutig“ zugeordnet. Bestätigt werden konnte ein Zusammenhang zwischen Silbenanzahl und Zuordnung zu den Kategorien „männlich“ und „weiblich“ sowie zwischen dem Sonoritätskontrast und der Zuordnung. Je höher die Silbenanzahl, desto häufiger wurde ein Name als weiblich assoziiert, je höher der Sonoritätskontrast, desto häufiger wurde die Kategorie männlich ausgewählt. Ebenso bestätigte sich der von Damaris Nübling und Miriam Schmidt-Jüngst entwickelte Index zur Bewertung von deutschen Rufnamen (zu diesem Index s. Damaris Nübling, „Beziehung überschreibt Geschlecht. Zum Genderindex von Ruf- und Kosenamen.“ In: Sprache und Beziehung. 2017).

Bei der zweiten Studie Tiemeyers handelte es sich ebenfalls um eine Online-Befragung, diesmal standen Texte mit Adjektiven im Zentrum. Viele Adjektive sind mit den Konzepten „männlich“ und „weiblich“ fest verbunden. Wie stark welche Adjektive welchem Geschlecht zugeordnet werden, sollte in der zweiten Studie untersucht werden. Hierfür wurden 40 Lückentexte erstellt, die fünf verschieden besetzte Adjektive enthielten (positive männliche/weibliche Adjektive oder positiv und negativ gemischte Adjektive). Es nahmen 241 Personen teil, die je fünf Lückentexte mit Pronomen und Filleritems ausfüllen mussten. Es zeigte sich eine Abhängigkeit der Wahl des Pronomens (er/sie/es/sein/ihre …), und damit der Festlegung auf ein Geschlecht, von den verwendeten Adjektiven.

Die dritte Studie des Teilprojektes Psycholinguistik wird eine EEG-Studie zu stereotypem vs. definitorischem Geschlecht sein. In diesem dritten Schritt werden Texte und Namen zusammengeführt. Hier wird untersucht, was einerseits passiert, wenn der Text mit einem kongruenten, also zu dem vorher aufgebauten Geschlechtskonzept passenden Pronomen fortgeführt wird, und andererseits, was passiert, wenn ein Pronomen folgt, das nicht zum aufgebauten Geschlechtskonzept passt. Dies wird mit Hilfe von ereigniskorrelierenden Potentialen gemessen.

Diese dritte Studie basiert auf folgenden Voraussetzungen: Ereigniskorrelierte Potentiale stellen Gehirnaktivitäten als Reaktionen oder Vorbereitungen auf bestimmte Ereignisse dar und können ebenso in der Stereotypforschung eingesetzt werden. Bestimmte Komponenten der Gehirnaktivitäten, wie etwa die N400 oder P600, sind in verschiedenen Studien gut untersucht worden. Die N400 gilt beispielsweise als besonders sensitiv für semantische Aspekte von Sprache. Nicht in einen gegebenen Kontext passende oder unerwartete Wörter lösen einen stärkeren negativen Verlauf im EEG aus als passende Wörter. Die P600 tritt als Reaktion auf syntaktische Verarbeitungsschwierigkeiten auf.

Frivole Frauen und exhibitionistische Männer: Geschlechtsspezifische Stereotype im Sprachgebrauch

Dr. Sina Lautenschläger (Universität Kassel)

Der Vortrag mit dem Titel „Frivole Frauen und exhibitionistische Männer: Geschlechtsspezifische Stereotype im Sprachgebrauch“ von Dr. Sina Lautenschläger gliederte sich in vier Teile.

Im ersten Teil des Vortrags zeigte Lautenschläger eine Auswahl von Abwehrreaktionen gegenüber geschlechtergerechter Sprache. Beispielhaft wurden die Äußerungen von Manfred Schwarz („Gender-Sprachwucherungen“ als „Kommunikations-Krankheit“, die „nichts Gutes für die Entwicklung der deutschen Sprache verheiß[en]“, Sprachnachrichten Nr. 77 (I/2018), S. 26) und Walter Krämer („Sprachmanipulationen“ mit „sprachschädigende[n] Auswüchse[n]“ Sprachnachrichten Nr. 82 (II/2019), S. 2) angeführt. Die Referentin machte deutlich, dass die Abwehrreaktionen einer konservativen Haltung entsprächen, die sprachliche Neuerungen als Bedrohung wahrnehmen. In diesem Kontext bezeichnete die Vortragende Sprachkritik als Korrektiv im Machtspiel der Diskurse. Es wurde angemerkt, dass Kritiker*innen geschlechtergerechter Sprache sich meist auf Forschung zu Nomina, Appellativa und Pronomina, nicht jedoch auf die Forschung zu Stereotypen im Sprachgebrauch beziehen.

Im zweiten Teil des Vortrags wurden zunächst die drei untersuchten Korpora und die verwendete Software (COSMAS II) kurz vorgestellt. Lautenschläger erläuterte die statistische Signifikanz in Sprachgebrauchsmustern (Kookkurrenzen) in der Korpuslinguistik (mit „Männer“ und „Frauen“ als häufigste Kookkurrenz in den drei Korpora) und die verschiedenen Datenfiltermethoden (corpus driven vs. corpus based). Zur Verdeutlichung der zugrunde gelegten Framesemantik wurde der Aufbau eines Frames definiert sowie die Relevanz des gesellschaftlichen Wissens einer bestimmten kulturellen Gemeinschaft in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum betont, da dieses für das angemessene Verstehen die notwendige Voraussetzung sei.

Der dritte Teil des Vortrags, zu assoziativ-semantischen Stereotypen und Medienrealität, begann mit einer Definition. Assoziativ-semantische Stereotype seien für die Wissenschaft wertneutral, Mittel der Komplexitätsreduktion und außerdem keine individuellen Erfahrungen, sondern werden von Gruppenmitgliedern geteilt. Außerdem seien sie weder rein individuell der parole noch lexikalisiert der langue zuzuordnen. Mit Bezug auf Geschlechterstereotype bedeute dies, dass diese Stereotype kognitive Strukturen seien, die sozial geteiltes Wissen über die charakteristischen Merkmale von Frauen und Männern enthalten, und damit ein alltagsweltliches Geschlechterwissen (individuell und kulturell geteiltes Verständnis) seien, welches präskriptive und deskriptive Anteile habe.

Abschließend wurden Ergebnisse der Studie präsentiert. Lautenschläger betonte, dass geschlechtsspezifische Stereotype sehr tief verankert und dadurch nicht so leicht zu beheben seien. Beispielhaft für geschlechtsspezifische Stereotype führte die Referentin das Stereotyp von Männern als „Exhibitionisten“ und „Sexualtäter“ an, welches in den Korpora durch den Verweis auf männliche Triebhaftigkeit zum Ausdruck komme. Frauen hingegen erschienen in ähnlichen Fällen als „frivol“ in den Korpora und wurden sonst durch das Bild der Frau als Mutter (aus ureigenem biologischen Bedürfnis) beschrieben. Die Auflösung dieser geschlechtsspezifischen Stereotype könne nur gelingen, indem die Wahrnehmung dieser Stereotype explizit gemacht werde.

Den Leser durch gekünsteltes Wortgut irritieren … Rhetorische Figuren und Argumentation in der österreichischen Debatte um die Normierung antidiskriminierender Sprache

Dr. Claudia Posch (Universität Innsbruck)

Dr. Claudia Poschs Vortrag mit dem Titel „Den Leser durch gekünsteltes Wortgut irritieren ... Rhetorische Figuren und Argumentation in der österreichischen Debatte um die Normierung antidiskriminierender Sprache“ bot einen Einblick in Positionen gegenüber geschlechtergerechter Sprache in Österreich. Posch präsentierte ihre qualitative, argumentationsanalytische Untersuchung des ‚Offenen Briefs gegen das Gendern‘ vom Juli 2014.

Posch schilderte zunächst die Entstehungsgeschichte des von ihr analysierten offenen Briefes. Den sich von 2011 bis 2018 erstreckenden thematisch-historischen Kontext, der sich vor allem auf die ÖNORM 1083 des ASI (Austrian Standards Institute, ähnlich der deutschen DIN) bezog, beschrieb sie folgendermaßen: Die ÖNORM 1083 sollte die Gestaltung von Schriftstücken für gendergerechtes Formulieren regeln – in ihr wurde die Verwendung des ‚generischen‘ Maskulinums empfohlen. Diesem Vorschlag folgte ein Aufschrei der feministischen Community, woraufhin das ASI die Änderungen der ÖNORM zurückzog. Die zeitgleiche Änderung einer Stelle in der österreichischen Nationalhymne von „Söhne“ zu „Töchter und Söhne“ war problemlos verlaufen. Als das ASI später die identische ÖNORM erneut vorschlug, entbrannte eine aggressive Diskussion, u.a. auf Twitter, bis sich eine Scheinlösung ergab: Die Generalklausel (,generisches‘ Maskulinum mit dem Zusatz, Frauen seien mitgemeint) welche als „allgemein üblich akzeptiert“ dargestellt wurde (ÖN, 38). Als der österreichische Musiker Andreas Gabalier dann öffentlich die alte Version der Nationalhymne sang und dies von den Medien aufgegriffen wurde, wurde die Änderung der Nationalhymne plötzlich zum allgemeinen Diskussionsthema. Im Verlauf dieser Diskussion postete die damalige österreichische Bildungsministerin ein Foto mit der neuen Nationalhymne auf Facebook, was einen Shitstorm gegen sie zur Folge hatte. In diesem Kontext entstand der im Vortrag thematisierte offene Brief, welcher u. a. von Prof. Heinz-Dieter Pohl, Prof. Peter Wiesinger und Dr. Thomas Kubelik publiziert sowie von 800 Personen unterschrieben wurde. Schließlich löste das ASI das ÖNORM Komitee auf und seither ist laut Posch die ÖNORM 1083 kein Thema mehr.

Als nächsten Punkt präsentierte Posch die zwei Inhaltsbereiche der Argumentation im offenen Brief gegen das Gendern: die linguistische und die gesellschaftliche Argumentation. In der Argumentationsanalyse sei zu erwarten gewesen, dass stark emotional argumentiert worden sei. Beispielsweise seien Autoritätsargumente mit Unterschrift der genannten Expert*innen inklusive Funktionstiteln angeführt worden. Die Struktur eines Autoritätsarguments (Major Premise, Minor Premise, Conclusion) beziehe sich auf eine Expert*innenquelle. Um Autoritätsargumente zu beurteilen, zog Posch die Methode der ‚kritischen Fragen‘ (Douglas Walton 1997) bespielhaft für Prof. Heinz-Dieter Pohl heran und wendete diese Methode exemplarisch an. Die kritische Frage nach dem Bereich von Pohls Expertise warf bereits die ersten Probleme auf, da Pohl keinerlei Publikationen zum Thema Gender oder feministische Linguistik vorzuweisen habe und somit nicht als Experte für das fragliche Feld zu bezeichnen sei. Auch die kritische Frage nach Meinungen ergab, dass zwar Behauptungen, jedoch keine Beweise angeführt wurden. Die Prüfung der Glaubwürdigkeit und somit der Verlässlichkeit als Expert*innenquelle zeigte, so Posch, dass Pohl, der auch Mitglied der Österreichischen Landsmannschaft ist, das Gendern nicht aus linguistischer, sondern aus politischer Haltung ablehne.

Des Weiteren könne kritisch nach der Konsistenz der Argumentation gefragt werden: Spiegelt die Expert*innenmeinung den aktuellen Stand der Forschung wider? Auch dies sei laut Posch zu verneinen. Da es außer „laut jüngsten Umfragen“ (ohne Verweise auf diese Umfragen) keine Studien oder Quellenangaben gegeben habe, seien keine Beweise für die Expert*innenmeinung erkennbar. Demzufolge könne das Autoritätsargument der kritischen Evaluierung nicht standhalten und sei ein informeller Trugschluss.

Weitere von Posch angesprochene Argumente waren das Red Herring-Argument (welches der Ablenkung diene), das Slippery Slope-Argument (auch Dammbruchargument oder Argument der schiefen Ebene genannt, welches ein Horrorszenario abbilde und mit den kritischen Fragen nach Walton evaluiert werden könne), Zirkelschlüsse, das Mitleidsargument (Argumentum ad misericordiam) sowie der strategische Metapherngebrauch (bspw. Kriegsmetaphern oder Sprache als ‚gewachsene Struktur‘ und somit biologisch unabhängig von den Menschen).

In der an den Vortrag anschließenden Diskussion ging Posch auch auf die aktuelle Situation in Österreich ein. Unternehmen in Österreich wählten eigenständig eine Form aus, da es keine normierte gesetzliche Vorgabe gebe. Universitäten hätten die offizielle Vorgabe, Sprache geschlechtergerecht zu gestalten, aber auch hier gebe es keine konkrete Anweisung für die Umsetzung dessen. Diese Beobachtungen Poschs deckten sich mit denjenigen, die später von Gabriele Diewald in ihrem Vortrag zur Situation in Deutschland beschrieben wurden.

Zwischen Vorbildfunktion und ‚ideologischer Verwirrung‘ – geschlechtergerechte Sprache an Hochschulen

Christine Ivanov, M.A. (Leibniz Universität Hannover)

Für das Teilprojekt Linguistik des Projektes „Geschlechtergerechte Sprache in Theorie und Praxis“ sprach die Geschlechterforscherin Christine Ivanov und gab einen Einblick in einen Arbeitsbereich des Teilprojektes, in dem Empfehlungen zu geschlechtergerechter Sprache (ggS) an Hochschulen untersucht wurden. Hochschulen sind im Hinblick auf ggS aus mehrerlei Gründen interessant: Als Bildungsinstitutionen kommt ihnen eine Vorbildfunktion im Hinblick auf Sprachwandel zu. Als öffentliche Einrichtungen sind sie rechtlichen Regelungen zur „sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern“ verpflichtet. Gleichzeitig wird ggS vorgeworfen, ein linkes, akademisches Elitenprojekt zu sein, unverständlich und auch irrelevant für den ‚Mainstream‘. Das heißt, ggS an Hochschulen befindet sich in einem Spannungsfeld.

Von dem Teilprojekt Linguistik wurden knapp 80, im Jahr 2017 öffentlich zugängliche Empfehlungen zu ggS von staatlichen Hochschulen aus Deutschland inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Analyse erbrachte, dass Leitfäden vor allem drei Aufgaben übernehmen: Information (über verschiedene Formen geschlechtergerechter Sprache), Sensibilisierung (für den eigenen Sprachgebrauch) sowie Unterstützung der praktischen Umsetzung (anhand konkreter Beispiele). Die Empfehlungen liegen innerhalb der Verantwortung der Gleichstellungsbüros. Dies zeigt eine Verschiebung der einstigen Zuständigkeit von Sprachwissenschaftlerinnen für das Thema ggS hin zu Personen, die heute in der institutionalisierten Gleichstellungsarbeit tätig sind. 

In den Titeln der Empfehlungen werden am häufigsten die Schlagwörter geschlechtergerecht und gendergerecht verwendet. Sie tauchen häufig gemeinsam mit gendersensibel auf. So werden einerseits die rechtlichen, institutionalisierten Aspekte bezeichnet und andererseits das individuelle Bewusstsein und die Verantwortung für die eigene Sprachverwendung hervorgehoben. Insgesamt wird in den Leitfäden selten eine konkrete und verbindliche Empfehlung für bestimmte Schreibweisen ausgesprochen. Vielmehr wird die Palette an Möglichkeiten dargestellt und konkretisiert, wer mit den unterschiedlichen Formen angesprochen werden soll. ‚Klassische‘ Strategien werden teilweise durch neuere Vorschläge ergänzt. Die Regelungen sind kaum verbindlich. Die Zielgruppen und Anwendungsbereiche bleiben häufig unklar.

In einem zweiten Arbeitspaket untersucht das Teilprojekt derzeit Personenbezeichnungen in 13 Textsorten von 30 Hochschulen. Zentral ist dabei die Frage, welche Formen sich finden (Variation) und wie sie im Textverlauf kombiniert werden. Die von der Sprecherin in ihrem Vortrag dargestellten Ergebnisse bezogen sich auf erste Auswertungen der geschlechtsübergreifenden substantivischen Personenbezeichnungen in 25 Leitbildern und 285 Stellenanzeigen und erbrachten folgenden vorläufigen Befund: 

Die verschiedenen existierenden Möglichkeiten geschlechtergerechter Schreibung werden in ihrer ganzen Bandbreite genutzt. Dabei überwiegt, insbesondere in den Leitbildern, die Verwendung von Neutralisierungen, die nicht direkt als ggS erkennbar sind. Auch Beidnennungen werden häufig verwendet, was den institutionellen und rechtlichen Empfehlungen entspricht. Der Schrägstrich wird kaum verwendet, obwohl in Leitfäden seine Verwendung für Stellenanzeigen empfohlen wird.

Schon eingangs wurden in der Untersuchung die Schwierigkeiten in der Anwendung von ggS in komplexeren Strukturen deutlich. Insgesamt sind Kurzformen verhältnismäßig selten vertreten. ‚Generische Maskulina‘ kamen 2018 in den Stellenausschreibungen quasi nicht vor. Auffällig ist jedoch der Anstieg von Maskulina mit dem Zusatz (m/w/d) in 2019. Insgesamt fällt auf, dass versucht wird, mit dem Zusatz m/w/d der neuen rechtlichen Situation gerecht zu werden. In Leitbildern sind ‘generische Maskulina‘ selten, aber weiterhin vorhanden, auch an herausragenden Textpositionen, wie in der direkten Ansprache von „Wissenschaftlern“.

Die Sprecherin fasste für die noch laufende Untersuchung vorläufig zusammen, dass im Bereich ggS eine große Vielfalt auffalle, die durchaus auch Widersprüche beinhalte. Sprache sei stetig im Wandel und gerade aktuell lasse sich im weiten Bereich geschlechtergerechter Sprache sehr viel Bewegung beobachten. Diese Bewegung stehe im Konflikt mit dem Wunsch von Sprachbenutzenden nach Beständigkeit und klaren, einfachen Vorgaben. Die beobachteten Beispiele zeigen laut Ivanov, dass durch die Kombination verschiedener Möglichkeiten verständliche, ansprechende und persönliche Texte verfasst werden können. Leitfäden stellen somit wichtige Informationen für eine informierte Entscheidung zu sprachlicher Gestaltung zur Verfügung. Die Schwierigkeit einheitliche Regelungen zu erstellen bei gleichzeitiger Notwendigkeit von Leitfäden für die Praxis sowie die Diskrepanz zur Umsetzung wurde anschließend von allen diskutiert.

Das Gewicht der Sprache für gesellschaftliche Veränderungen

Prof. Dr. Gabriele Diewald (Leibniz Universität Hannover)

Die Leiterin des Forschungsprojektes „Geschlechtergerechte Sprache in Theorie und Praxis“ unternahm es in ihrem Vortrag, aus sprachwissenschaftlich geprägtem Blickwinkel einen größeren Kontext für das betrachtete Themengebiet zu liefern. Ausgehend vom aktuellen öffentlichen Diskurs zur geschlechtergerechten Sprache (ggS) und ihren Gebrauchsbedingungen stellte sie die weiter gefasste Frage nach dem Zusammenwirken von sprachlichem und gesellschaftlichem Wandel.

Zunächst wurden von ihr wichtige Grundannahmen zur Funktion von Sprache skizziert und die gängigen Neuerungen im Kontext geschlechtergerechter Sprache kurz rekapituliert. Sprache wurde als das Resultat der Gesamtheit der Konzeptualisierung der Sprachgemeinschaft (Spiegel des Geistes) dargestellt: Ihre Eigenschaften als Muster und Instrument für weitere Konzeptionen der Wirklichkeit wurden hervorgehoben und die Tatsache betont, dass Sprache vom Denken geprägt sei und dabei gleichzeitig das Denken präge. Sprache wurde als Grundlage jeglicher gesellschaftlichen Interaktion dargestellt. Ferner wurde in Erinnerung gerufen, dass Sprache maßgeblich sowohl die Konstitution und (Selbst-)Definition des Individuums als auch der Gesellschaft präge und dass ihre Bedeutung als entscheidender Faktor für die Realisierung von Gleichstellungsbemühungen inzwischen unumstritten sei. Als gängige sprachliche Mittel zur Realisierung von geschlechtergerechter Sprache wurden Sichtbarmachung, Neutralisierung und Umschreibung erläutert. Auch neuere Ausdrucksmittel (Genderstar und Gendergap) wurden dargestellt und anhand von zahlreichen Beispielen aus dem alltäglichen Sprachgebrauch illustriert.

Die in jüngster Zeit veränderte gesellschaftliche Aufmerksamkeit dem Thema ggS gegenüber wurde mit faktischen gesellschaftlichen Veränderungen in Zusammenhang gebracht. Von diesen wurden konkret angesprochen: i. die Einführung der sogenannten dritten Option, ii. der darauf abgestellte neue Leitfaden der Stadt Hannover von 2019 zur geschlechtergerechten Sprache sowie iii. die aktuellen Positionen der sprachbeobachtenden ‚Institutionen‘, insbesondere des Rates für deutsche Rechtschreibung (zur Normierung der Rechtschreibung insbesondere beim Genderstar) und die letzte Auflage der Duden-Grammatik (zu Interpretation und Gebrauch des sogenannten ‚generischen Maskulinums‘). Als zusammenfassender Befund zur aktuellen Lage hielt die Sprecherin fest, dass in der Praxis derzeit Gruppen und Institutionen verschiedenste interne Normierungen und Regelungen vornähmen. Währenddessen enthielten sprachbeobachtende und für Normierungen ‚zuständige‘ Stellen sich aktuell konkreter Stellungnahmen und verwiesen stattdessen darauf, dass angesichts des aktuellen Wandels genauere Analysen und Beobachtungen der Entwicklung angeraten seien, bevor ihrerseits Festlegungen, die normativen Charakter haben, vorgenommen werden können. Im Anschluss wurden Grundlinien der linguistischen Beschreibung von Sprachwandelprozessen erläutert. 

Der letzte Teil des Vortrags befasste sich mit verschiedenen sprachtheoretischen Positionen zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit (Gesellschaft). In Zuspitzung und Vereinfachung der komplexen wissenschaftlichen Diskussion wurden drei Positionen einander gegenübergestellt. 

Die erste Position wurde als eine Position beschrieben, die der Sprache eine reine Abbild- bzw. Ausdruckfunktion zumisst, durch die der Sprachgebrauch als unwesentlich im Vergleich zu gesellschaftlichem Handeln und zu sozialen und politischen Veränderungsbestrebungen erscheint. Mit dem Verweis auf den Handlungscharakter der Sprache wurde von der Vortragenden diese Position als nicht angemessen zurückgewiesen. Analoges machte sie für die zweite Position geltend, die im Sinne eines radikalen Konstruktivismus das Gewicht der Sprache als alleinige Instanz der Konstitution von Wirklichkeit überbewertend und soziale und gesellschaftliche Faktoren ignorierend dargestellt wurde. Die dritte Position wurde als die einer Synthese umrissen, die das interdependente Geflecht von Ursache und Wirkung zwischen sprachlichen Konzepten und sprachlichem Handeln einerseits und gesellschaftlichen Bedingungen und gesellschaftlichem Wandel andererseits hervorhebt. Auf der Grundlage dieser dritten, von einer komplexen Interdependenz ausgehenden Position wurden die Wirkungsmöglichkeiten des Gebrauchs geschlechtergerechter Sprache im Hinblick auf die Konsolidierung und Weiterentwicklung der Gleichstellung als sehr hoch bewertet.

m/w/d – geschlechtergerechte Sprache jenseits von männlich und weiblich

Dr. Louis Kasten (Mitwirkender an der Kampagne Dritte Option, Richter am Sozialgericht)

Den ersten Vortrag aus juristischer Perspektive hielt Dr. Louis Kasten zum Thema „m/w/d – geschlechtergerechte Sprache jenseits von männlich und weiblich“. Zur Einführung in die Thematik wählte der Referent die den Medien entnommene Schlagzeile „Endlich gibt es das dritte Geschlecht“ aus, um anhand derselben einige verbreitete Fehlannahmen in der öffentlichen Debatte zu korrigieren. Es gehe insbesondere nicht um die Schöpfung eines neuen Geschlechts, sondern um die Sichtbarmachung und juristische Anerkennung einer bereits zuvor bestehenden Geschlechtervielfalt; auch gebe es nicht nur ein „drittes“ Geschlecht, sondern damit würden zusammenfassend viele verschiedene Geschlechtsidentitäten bezeichnet. Darüber hinaus nahm der Referent weitere begriffliche Klärungen bezüglich der betroffenen Menschen vor. Die Begriffe „inter*“, „trans*“ und „nicht-binär“ seien als sich jeweils anteilig überlappende Kreise darstellbar, da es Schnittmengen zwischen allen drei Personengruppen gebe. 

Es wurde kurz die Ende 2018 erfolgte Gesetzesänderung im Personenstandsrecht in den §§ 22 Abs. 3, 45b des Personenstandsgesetzes (PStG) erläutert, welche – zusätzlich zu der (jetzt vierten) Option eines Verzichts auf einen Geschlechtseintrag – als dritte positive Option für den Geschlechtseintrag im Geburtenregister den Eintrag „divers“ ermöglicht hat und spätere Änderungen des Eintrags im Geburtenregister bei „Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ zulässt. Der Referent regte an, im Geburtenregister zusätzlich zu der Eintragung „divers“ die Aufnahme einer (deklaratorischen) Selbstbezeichnung zu ermöglichen, um der individuellen Identität der Betroffenen besser gerecht zu werden. 

Im zweiten Teil des Vortrags ging es um die Gesetzessprache. Der Referent schilderte, dass sich insofern schon manche Änderung zeige, auch wenn die Gesetzesbegründung zur Änderung des PStG sprachliche Anpassungen nicht für erforderlich erachtet habe (BT-Drs. 19/4669, S. 8). So solle etwa nach dem Hebammenreformgesetz der Begriff „Hebamme“ nun für Personen gleich welchen Geschlechts Verwendung finden, und das Mutterschutzgesetz (MuSchG) gelte nach § 1 Abs. 4 Satz 1 für „jede Person, die schwanger ist, ein Kinder geboren hat oder stillt“. Der Referent sprach sich ferner für eine verfassungskonforme Auslegung von Rechtsnormen wie z. B. § 1 Hessisches Gleichberechtigungsgesetz (HGlG) aus, in denen nur von Männern und Frauen die Rede sei, da davon auszugehen sei, dass der Gesetzgeber alle Menschen habe inkludieren wollen. 

Zuletzt ging der Referent noch auf den sprachlichen Einbezug von nicht-binären Personen ein. Hier seien in der Behördenpraxis ebenfalls schon Veränderungen erkennbar, indem unterschiedliche neue Formen der Anrede genutzt würden wie z.B. die Anrede mit „Guten Tag“ und dem Namen der Person. Nach Einschätzung des Referenten fühle sich die betroffene Community auch durch das Gender-Sternchen angesprochen. Gegenüber dem Klammerzusatz „m/w/d“ äußerte sich der Referent dagegen kritisch, da das „d“ nicht alle Personen erfasse, die sich weder als männlich noch weiblich einordneten. Ziel solle die Adressierung nach der Geschlechtsidentität, nicht nach dem Eintrag im Geburtenregister sein. 

Dem Vortrag folgte eine engagierte Diskussion, in der es insbesondere um die äußerst praxisrelevante Frage ging, ob Frauen-/Gleichstellungsbeauftragte nun auch für Personen „dritten Geschlechts“ zuständig sind. Dabei wurde deutlich, dass dies auch von noch nicht abschließend geklärten, kontrovers diskutierten verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 3 GG abhängt.

Vorgaben zur Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache im BGleiG und AGG

Dr. Torsten von Roetteken (Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht a. D.)

Einen weiteren Vortrag aus juristischer Perspektive hielt Dr. Torsten von Roetteken, und zwar zu „Vorgaben zur Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache im BGleiG und AGG“. 

Der Referent ging zunächst auf § 4 Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG) ein und stellte klar, dass dieser nur für die öffentliche Verwaltung im Bund gilt und keine Auswirkungen auf die Privatwirtschaft zeitigt. Die Regelung zu geschlechtergerechter Sprache in § 4 Abs. 3 Satz 1 BGleiG, wonach Rechts- und Verwaltungsvorschriften die Gleichstellung von Frauen und Männern auch sprachlich zum Ausdruck bringen sollen, werfe die Frage auf, was dies in Bezug auf das „dritte Geschlecht“ bedeute. Vergleichbare Regelungen fänden sich auch in manchen Landesgesetzen. Auf der Bundesebene bestehe außerdem die Vorgabe für Gesetzentwürfe in § 42 Abs. 5 Satz 2 GGO. Was die diskriminierungsfreie Ausschreibung von Arbeitsplätzen betrifft, gebe es neben den unterschiedlichen Regelungen auf der Landesebene die Vorgaben in § 6 BGleiG. 

§ 6 Abs. 1 Satz 1 BGleiG verlange – anders als zum Teil das Landesrecht – eine geschlechtsneutrale Ausschreibung. Ferner müsse nach § 6 Abs. 1 Satz 3 BGleiG der Ausschreibungstext so gestaltet sein, dass er „Angehörige beider Geschlechter in gleicher Weise anspricht“. Dies beziehe sich, so der Referent, auf den gesamten Ausschreibungstext und selbst auf den Ort bzw. das konkrete Medium der Veröffentlichung. Allerdings liege hierzu noch keine Judikatur vor, anders als zum ebenfalls für Arbeitsplatzausschreibungen relevanten § 11 AGG. § 11 AGG verlange eine diskriminierungsfreie Ausschreibung, wofür es nach Ansicht des Referenten nicht genügt, „nicht ausgeschlossen“ zu sein, sondern diskriminierungsfrei bedeute hier ebenfalls „gleichermaßen angesprochen“. Die Rechtsprechung habe allerdings bislang mit Blick auf § 11 AGG männliche Berufsbezeichnungen mit dem Klammerzusatz „m/w“ akzeptiert, also das generische Maskulinum, wie dies auch der BGH in seinem Urteil zu Personenbezeichnungen in Vordrucken/Formularen vom 13.3.2018 (VI ZR 143/17) getan habe. 

Der Referent setzte sich ausführlich kritisch mit diesem BGH-Urteil (zu Sparkassenformularen) auseinander. Er monierte insbesondere, dass der BGH keine Vorlage an den EuGH vorgenommen habe. Die Abkehr vom generischen Maskulinum hält er für einen auch verfassungsrechtlich gebotenen Traditionsbruch. Stattdessen gelte es seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „dritten Geschlecht“, Formen einer geschlechtsneutralen Sprachgestaltung zu entwickeln. Für Ausschreibungen sei es vorzugswürdig, Aufgaben, Tätigkeitsbereiche und Berufe geschlechtsneutral zu definieren. Der neu aufgekommene Klammerzusatz „m/w/d“ sei dagegen abzulehnen, weil er eine Dreiteilung der Geschlechter vornehme und erneut dem Bestreben unterliege, alle Menschen in Bezug auf ihr Geschlecht zu kategorisieren. Aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ergebe sich, dass jeder Mensch selbst und ohne staatliche Mitwirkung oder Anerkennung über die eigene geschlechtliche Zuordnung bzw. Identität entscheiden können müsse wie auch darüber, diese ggf. im Laufe seines Lebens zu ändern. 

Abschließend beanstandete der Referent noch die mangelnde Beachtung des für den dienstlichen Schriftverkehr geschlechtergerechte Sprache fordernden § 4 Abs. 3 Satz 2 BGleiG in der Praxis der Bundesgerichte (mit Ausnahme neuerer BAG-Entscheidungen). Der Vortrag mündete in eine Diskussion, in der es auch um den Begriff der Unterrepräsentanz im Sinne des Gleichstellungsrechts ging.

Geschlechtergerechte Sprache und Grundgesetz – (Wie) Hängt das zusammen?

Annelie Bauer, Ass. iur. (Leibniz Universität Hannover)

Den letzten Vortrag hielt Ass. iur. Annelie Bauer. Der Titel lautete „Geschlechtergerechte Sprache und Grundgesetz – (Wie) Hängt das zusammen?“. Der Vortrag gewährte einen Einblick in die Fragestellungen, mit denen sich das juristische Teilprojekt innerhalb des Projektes „Geschlechtergerechte Sprache in Theorie und Praxis“ beschäftigt und spiegelt einen Ausschnitt der Problematiken wider, mit denen sich die Referentin auch im Rahmen ihrer bereits zur Begutachtung eingereichten Dissertation befasst.

Einleitend wies die Referentin darauf hin, dass sich (auch) im Grundgesetz Bestimmungen unter (vermeintlicher) Erwähnung nur von Männern fänden wie „Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt“ (Art. 63 Abs. 1 GG), dass es aber andererseits in Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG heiße: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Insofern stelle sich die Frage, wie dies zusammenpasse. 

Der Vortrag gliederte sich in zwei Teile. Im ersten Teil ging es um geschlechtergerechte Vorschriftensprache und das Grundgesetz, also die sprachliche Fassung von abstrakt-generellen Rechtsnormen wie Gesetzen, im zweiten Teil um die konkret-individuelle Amtssprache, also etwa die Ansprache in einem von einer Behörde an eine bestimmte Person gerichteten Schreiben wie einem Verwaltungsakt. 

Mit Blick auf die Vorschriftensprache wurde zunächst die Frage eines Verstoßes nicht geschlechtergerechter Vorschriftensprache gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 GG erörtert, im Ergebnis aber von der Referentin ebenso verneint wie ein Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG oder gegen das (von der Rechtsprechung entwickelte) Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Daraus sei aber noch nicht zu schließen, dass das Grundgesetz keine Maßgaben für geschlechtergerechte Vorschriftensprache beinhalte, dass also im Sinne des Titels des Vortrags geschlechtergerechte Sprache und das Grundgesetz „nicht zusammenhingen“. Staatliches Hinwirken auf eine geschlechtergerechte Sprache lasse sich nämlich insbesondere unter den Förderauftrag aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG subsumieren, wonach der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken hat. Allerdings, so die Referentin, seien hier auch aus der Verfassung im Übrigen sich ergebende entgegenstehende Belange zu berücksichtigen, wie die Grundrechte derer, die zu geschlechtergerechter Sprache angehalten werden, oder auch das Gebot der Normenklarheit und -verständlichkeit.

Im Hinblick auf (nicht) geschlechtergerechte Amtssprache sprach sich die Referentin dagegen für eine vorrangige Verortung der Thematik beim Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG aus.

Abschlusskommentar zur Konferenz „Denken – Sprechen – Gendern“, Hannover, 10.-11. Oktober 2019

In der angeregten Abschlussdiskussion der Veranstaltung wurde deutlich, dass sich die Teilnehmenden bei aller Vielfalt der vertretenen Positionen darüber einig waren, dass in allen in der Tagung behandelten Bereichen sowohl weiterer Diskussions- als auch Forschungsbedarf besteht. Darüber hinaus stimmten alle Beteiligten darin überein, dass die Mitteilung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu geschlechtergerechter Sprache an ein interessiertes Fachpublikum, aber auch an die breitere Öffentlichkeit – gerade angesichts der weitverbreiteten Fehlinformationen zu diesem Thema – noch weitaus intensiver betrieben werden muss.

Über ein praxisbezogenes Resultat des Projektes gibt es aktuell zu berichten: Als Reaktion auf das große Interesse und häufig beobachtete Unsicherheit beim Formulieren werden die beiden Teammitglieder Christine Ivanov und Tabea Tiemeyer ab Anfang 2020 einen Sprachdienst zur Hilfe bei gendergerechtem Formulieren anbieten: https://www.sprachbewusst.de/.

Bei weiteren Fragen zur Veranstaltung können sich Interessierte gerne direkt an die Vortragenden wenden oder sich bei Interesse am Projekt mit der Projektkoordinatorin Dr. Maria B. Lange in Verbindung setzen, die auch für diesen Bericht verantwortlich zeichnet (maria.lange@germanistik.uni-hannover.de). Ihr Dank gilt allen Projektmitgliedern für ihre Unterstützung hierbei, besonders Natalie Kücken und Annelie Bauer für die Arbeit an den Zusammenfassungen der Gastvorträge.